«Die Krankheit darf mich nicht aufhalten, ich will immer noch studieren.»
Reporter:innen ohne Barrieren
Autor:in: Nicole Haas
Junge Menschen galten bei Ausbruch der Covid-Pandemie vor fünf Jahren als nicht gefährdet. Heute weiss man, dass diese Einschätzung nicht korrekt war: Auch sie können an langfristigen Folgen einer Infektion, Long Covid oder gar ME/CFS, erkranken. Wie Lea.
«Hier stimmt etwas nicht, das bin nicht mehr ich.» Diesen Gedanken hatte Lea, eine 18-jährige Gymnasiastin aus dem Aargau, einige Male in den vergangenen zwei Jahren. Zum Beispiel damals, als ihr plötzlich ein Glas entglitt, welches sie eigentlich fest in den Händen gehalten hatte. Eine seltsame Schwäche hatte ihre Hände erfasst.
Schlimm war es, als sie merkte, dass sie Schulstoff nicht mehr so gut lernte. Sie, die zuvor den Inhalt 20-seitiger PDFs nach einmaligem Durchlesen erinnern konnte. Oder wenn sie nach körperlichen Aktivitäten plötzlich eine verzögerte bleierne Erschöpfung erfasste. Sie, die zuvor viele Aktivitäten und Hobbies pflegte.
Fünf Jahre ist es her, seit der Bundesrat am 16. März 2020 die ausserordentliche Lage verkündet hat. Eine Zäsur in der Geschichte der Schweiz, vielleicht eine der grössten nach dem zweiten Weltkrieg, eingebrannt in unser kollektives Gedächtnis. Die grösste Sorge galt damals der sogenannten Risikogruppe: Menschen mit Vorerkrankungen und solche ab 65.
«Man wusste von der Sars-Pandemie Anfang der 2000-er Jahre, dass dieses Virus viele Nachwirkungen und eine erhöhte Zahl von ME/CFS Fällen verursacht hatte. Dass Sars-Cov-2 nun dasselbe tut, ist keine Überraschung.»
Maja Strasser, Fachärztin Neurologie
Eine Zäsur ist die Pandemie auch in Leas Lebensgeschichte. Gerade mal 13 Jahre alt war sie zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns. Eine energiegeladene Teenagerin, die gerne Volleyball und Klavier spielte, generell sportlich und oft in der Natur unterwegs war. Auch schulisch war sie leistungsfähig und erfolgreich. Seit sie sechs Jahre alt war, kannte sie ihren Berufswunsch: sie wollte Ärztin werden und anderen helfen.
Die Lea von heute hat diese Lebensfreude immer noch in sich: wenn sie von ihrer Zukunft und ihren Plänen spricht, dann versprüht sie eine Portion Optimismus, die ansteckend wirkt. Sie will das Beste aus ihrer Situation machen und immer das Positive sehen. Aber es gibt mittlerweile auch eine andere Lea. Jene, die vor der Zukunft Angst hat, und die langsam müde wird von all den gesundheitlichen Einbrüchen, die sie in den letzten fünf Jahre erleben musste.
2022 erkrankt Lea ein erstes Mal an Covid, ist zwei Wochen krank, sie hat sehr hohes Fieber. Von der Impfung kann sie nicht profitieren: Es wird vermutet, dass sie genetisch mit einer Gerinnungsstörung vorbelastet ist und somit zu den Risikopatient:innen der Impfung gehört. Wenige Monate später muss sie – im Februar 2023 – ihr Sprunggelenk punktieren lassen, weil dieses nach einem komplizierten Bruch nicht richtig heilen will. Dabei kommt es zu einer Infektion mit einem resistenten Krankenhauskeim
«Ich will - auch wenn es nur kleinste Schritte sind - etwas dazu beitragen, dass die Erkrankung ME/CFS bekannter und das Verständnis dafür grösser wird.»
Lea, Gymnasiastin
Zuerst Covid, dann der Krankenhauskeim: Leas Körper reagiert. Die bisher schulisch erfolgreiche und sportliche Schülerin ist plötzlich oft erschöpft, ihre Noten beginnen zu sinken. Die Symptome werden immer mehr: es kommen Schmerzen in den Muskeln und den Gelenken hinzu, eine generelle Schwäche. Ihre Ärzte klären zuerst zahlreiche körperliche Erkrankungen ab und vermuten zuletzt auch psychische Ursachen. Lea selbst probiert, gut für ihre Gesundheit zu sorgen: Sie geht früher ins Bett, öfter an die frische Luft, investiert weniger Energie in die Schule, aber das alles hilft nicht.
Zwei Monate vor den Sommerferien 2023 geht es Lea richtig schlecht, sie fehlt zwei Monate in der Schule und man weiss immer noch nicht, was los ist. Aufgrund einer Blutuntersuchung, die erst Monate später erfolgt ist, steht heute die Mutmassung im Raum, dass sie damals auch noch am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankte. Oder dieses zumindest reaktiviert wurde.
Lea beisst sich nach den Sommerferien 2023 erfolgreich weiter durch das Gymnasium: Sie fehlt zwar immer mal wieder ein paar Tage am Stück, aber ihre Leistungen reichen aus, damit sie bleiben kann. Erstmals findet sie auch eine Ärztin, welche sie unterstützt. Diese schreibt ihr ein Zeugnis, welches sie zu Fehlzeiten an Randstunden berechtigt, ihr einen Liftschlüssel fürs Schulgebäude ermöglicht und sie vom Sport dispensiert. 2024 erkrankt Lea noch ein zweites Mal an Covid. Ihre Beschwerden halten an und verschlimmern sich.
Bis heute - es ist über zwei Jahre her seit ihrer ersten Covid Erkrankung - gibt es für Lea keine endgültige Diagnose. Zwar bestätigt Leas Ärztin mündlich, dass sie vermutlich Long Covid und ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis), eine neuroimmunologische Erkrankung, habe. Aber sie möchte Lea diese Diagnose nicht schwarz auf weiss geben. Einerseits, weil es für beide Erkrankungen keine biologischen Marker gebe. Andererseits, weil sie Lea auf ihrem Weg zu mehr Gesundheit nicht entmutigen möchte.
Maja Strasser ist Neurologin und gilt schweizweit als eine der wenigen Fachpersonen, die sich eingehend mit Long Covid und ME/CFS beschäftigen. Sie tauscht sich regelmässig mit anderen Spezialist:innen auf der ganzen Welt aus. Aus ihrer Sicht ist Leas Geschichte in mehrfacher Hinsicht typisch. Sie ist ein typisches Beispiel für einen Menschen mit Long Covid, für eine an Covid-19 erkrankte Person, die noch lange Zeit später schwerwiegende Symptome hat. Und sie ist auch typisch für eine Gruppe von Menschen, bei der man das Risiko der Pandemie falsch eingeschätzt hat.
«Auch mit der aktuellen Omikron-Variante besteht weiterhin ein 5-10% Risiko, dass man Long Covid entwickelt.»
Maja Strasser, Fachärztin Neurologie
Strasser sagt: «Man wusste von der Sars-Pandemie Anfang der 2000-er Jahre, dass dieses Virus viele Nachwirkungen und eine erhöhte Zahl von ME/CFS Fällen verursacht hatte. Dass Sars-Cov-2 nun dasselbe tut, ist keine Überraschung.»
Seit Ausbruch der Pandemie ärgert sich die Neurologin, dass Schüler:innen nicht besser geschützt werden, zum Beispiel durch den anhaltenden Einsatz von Luftfiltern in Schul- und Unigebäuden. Strasser selbst schützt sich bis heute mit einer Maske und sorgt für gesunde Raumluft mit Luftfiltern und häufigem Lüften. Sie sagt: «Auch mit der aktuellen Omikron-Variante besteht weiterhin ein 5-10 % Risiko, dass man Long Covid entwickelt.»
Lea, die sich immer wieder mit gesundheitlichen Schwierigkeiten herumschlagen muss, möchte manchmal wissen, ob sie wirklich gut genug versorgt ist und ob man alles abgeklärt hat. Gibt es Gründe für die aufgetretene Medikamentenunverträglichkeit oder ihr angeschlagenes Immunsystem? Hat sie nun definitiv ME/CFS oder nicht?
«Viele schrecken vor dem IV Verfahren zurück, denn die Gutachten belasten die Betroffenen zusätzlich und führen oft zu einer Verschlechterung der Symptomatik.»
Chantal Britt, Präsidentin Long Covid Schweiz
Spezialist:innen für Long Covid und ME/CFS, welche nach neusten internationalen Erkenntnissen diagnostizieren und behandeln, gibt es gemäss Maja Strasser in der Schweiz nur eine knappe Handvoll. Diese können kaum mehr neue Patient:innen aufnehmen, weil sie seit der Pandemie überrannt werden. Strasser hat deshalb auf ihrer Website ein Therapieschema veröffentlicht, das jeder Ärztin ermöglichen soll, Betroffene nach den neusten Standards zu begleiten. Aber nicht alle Kolleg:innen begegnen diesem mit Offenheit.
Nachdem die offizielle Schweiz mehrere Jahre keinen Bedarf für eine verbesserte Gesundheitsversorgung von Betroffenen gesehen hat, kommt nun Rückenwind aus der Politik: Lorenz Hess, Nationalrat «Die Mitte», hat gemeinsam mit Vertreter:innen anderer Parteien die Motion für eine Nationale Strategie im Umgang mit Long Covid und ME/CFS eingereicht.
«Die Zahlen der IV zeigen, dass jüngere Menschen generell eine geringere Chance auf einen positiven Rentenbescheid haben als ältere Personen, die nahe an der Pensionierung stehen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.»
Chantal Britt, Präsidentin Long Covid Schweiz
Die Motion verlangt, dass die Schweiz künftig grundlegende Daten erfasst, den Zugang zu einer Diagnose und Behandlung nach internationalen Richtlinien sicherstellt und die Grundlagenforschung fördert. Der Bundesrat empfiehlt dem Parlament diese anzunehmen, die Motion geht nun zurück an die beiden Räte, welche über deren Annahme entscheiden werden.
Die optimistische Lea möchte trotz der Erkrankung etwas bewegen. Sie rappelt sich immer wieder auf. Ihren Traum mag sie nicht aufgeben, sie sagt: «Die Krankheit darf mich nicht aufhalten, ich will immer noch Medizin studieren.»
Die nun anstehende Maturaarbeit wird sie dafür nutzen, um ihre Schule für die Erkrankung ME/CFS zu sensibilisieren. Sie erklärt: «Ich will - auch wenn es nur kleinste Schritte sind - etwas dazu beitragen, dass die Erkrankung ME/CFS bekannter und das Verständnis dafür grösser wird.»
«Ohne Forschung werden wir das Ausmass und die Auswirkungen der Pandemie nie richtig erfassen können.»
Zahlen Schweiz
Aktuell werden in der Schweiz keine Zahlen zu Folgeerkrankungen durch Covid-19 erfasst. Chantal Britt von der Patientenorganisation Long Covid Schweiz sagt dazu: «Ohne gezielte Forschung werden wir das Ausmass und die Auswirkungen der Pandemie in der Schweiz nie richtig erfassen können.»
Die Zahl von Long Covid Betroffenen
Nach Definition der WHO gilt als Long Covid erkrankt, wer drei Monate nach Infektion noch Symptome hat. Je nach Studie schwankt die Zahl der Long Covid Betroffenen in der Bevölkerung zwischen 3,3% (Zahl der WHO) und 5 % (US Studie). Bei Kindern geht man von 1% Betroffenen aus.
Auf die Bevölkerung der Schweiz hochgerechnet sind das zwischen 300‘000 – 450‘000 Betroffene, knapp 20‘000 davon Kinder und Jugendliche.
Die Chance, vollständig zu genesen, ist in den ersten 6-12 Monaten am Grössten und nimmt nach einem Jahr Krankheitsdauer rapide ab. Einig sind sich Expert:innen darin, dass frühzeitiges Pacing (Anpassen der Aktivität an den Gesundheitszustand, Vermeidung von Überbelastung) sowie eine Behandlung der akuten Symptome zentral sind.
ME/CFS
Mindestens die Hälfte jener Long Covid Erkrankten, die nach 6 Monaten noch Symptome haben, erfüllen die diagnostischen Kriterien von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis, je nach Diagnosekriterien auch als ME bezeichnet), beziehungsweise 10% aller Long Covid - Betroffenen insgesamt . Diese neuroimmunologische Erkrankung führt zu sehr schweren Einschränkungen im Alltag. Patientenorganisationen schätzen, dass aktuell etwa 45‘000 aller Long Covid Betroffenen in der Schweiz die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen. Hinzu kommen noch mindestens 20'000 ME/CFS-Betroffene von vor der Pandemie.
Die Statistik der IV
Gemäss der Stichprobe des Bundesamtes für Sozialversicherungen haben sich bis Ende 2023 2900 Personen mit Long Covid bei der IV angemeldet. Das sind zwar relativ wenige, aber sie sind überdurchschnittlich stark eingeschränkt. 90% von ihnen sind komplett arbeitsunfähig und haben massive Einschränkungen im Alltag. Nur 12% der 2021 und 2022 Angemeldeten erhalten aktuell eine Rente.
Zwei Drittel der Erfassten sind Frauen, dies entspricht der in Studien beobachteten Verteilung der Geschlechter. Männer haben bessere Aussichten auf eine Rente als Frauen.
Long Covid Schweiz geht davon aus, dass sich nur ein Bruchteil der Betroffenen überhaupt bei der IV anmeldet. Chantal Britt, Präsidentin von Long Covid Schweiz sagt dazu: «Viele schrecken vor dem IV Verfahren zurück, denn die Gutachten belasten die Betroffenen zusätzlich und führen oft zu einer Verschlechterung der Symptomatik – und das mit einer geringen Chance auf eine Rente! Kinder unter 14 Jahren können keine IV-Rente beantragen. Die Zahlen der IV zeigen, dass jüngere Menschen generell eine geringere Chance auf einen positiven Rentenbescheid haben als ältere Personen, die nahe an der Pensionierung stehen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.»