Warum die IV so streng ist
Text: Andres Eberhard
Der Artikel wurde uns freundlicherweise vom «Surprise Strassenmagazin» zur Verfügung gestellt.
Teil 2 von 3
Weil die IV sparen muss, gibt es weniger Renten. Das dürfte nicht sein.
Die Invalidenversicherung (IV) sitzt auf einem Schuldenberg von rund 10 Milliarden Franken. Diese schuldet sie ihrer «grossen Schwester», der AHV, seit diese ihr 2011 ein Darlehen gewährte. Seit Jahren lautet darum der von bürgerlichen Parlamentarier*innen forcierte Auftrag: Sparen.
Doch wie spart man bei einer Sozialversicherung mit gesetzlichem Auftrag? Grundsätzlich hat sich an den Voraussetzungen für eine Invalidenrente seit Jahrzehnten nichts geändert. Dennoch stiegen die Renten in den 1990er-Jahren massiv an und gingen in den letzten 20 Jahren trotz Bevölkerungswachstum genauso drastisch zurück.
«Untersuchung der Universität Zürich zeigte, dass von 300 geprüften Fällen vor Gericht lediglich in einem Fall eine IV-Rente gesprochen wurde.»
Die IV feiert dies als Erfolg. In den letzten Gesetzesrevisionen wurde sie von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung umgebaut. Dass weniger Renten gesprochen und mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden, wünschen sich grundsätzlich alle. Doch dass die Integration tatsächlich so gut funktioniert, wie von der IV immer wieder betont wird, muss bezweifelt werden. Verschiedene Untersuchungen weisen auf einen eher bescheidenen Erfolg hin. Zudem postulieren zahlreiche an der Basis tätige Ärzt*innen und Therapeut*innen, dass gerade (Teil-)Renten vielen helfen würden, um gesund zu werden. Denn die finanzielle Unterstützung befreit die Betroffenen vom Druck, um ihre Existenz kämpfen zu müssen.
Kritiker*innen vermuten darum viel eher, dass die IV auf Kosten kranker Menschen spart. Tatsächlich kamen in den letzten Jahren mehrere Skandale ans Licht: Gutachter* innen schrieben Menschen praktisch am Fliessband gesund und verdienten damit Millionen. Und indem sie zur Berechnung der IV-Renten unpräzise Zahlen verwendet, rechnet die IV die Renten klein – mit der Folge, dass zahlreiche Geringverdiener keinen Anspruch haben. Stimmen diese Vorwürfe, verhält sich die IV gesetzeswidrig. Allerdings stützte das Bundesgericht bislang stets die umstrittene Praxis. An der Professionalität mancher Gutachter*innen hegte es zwar schon verschiedentlich Zweifel, grundsätzlich hält es die «Versicherungsmediziner* innen» aber noch immer für unabhängig, auch wenn viele von ihnen finanziell von der Versicherung abhängig sind. Auch den «Berechnungstrick» winkte das höchste Gericht kürzlich hauchdünn quasi mangels besserer Alternativen durch – mit einem 3:2-Mehrheitsentscheid (die SP-Richter waren dagegen, zwei von der SVP und einer von der CVP dafür).
Wer mit dem Hund Gassi geht, hat Probleme
Eine IV-Rente zu erhalten ist vor allem für jene schwieriger geworden, die an einer Krankheit leiden, welche objektiv nicht beweisbar ist – wie zum Beispiel ME (siehe Haupttext). Das Bundesgericht hat daran grossen Anteil. Zunächst stufte es solche Leiden als grundsätzlich «überwindbar » ein, woraufhin die IV für zahlreiche Krankheitsbilder während Jahren gar keine Renten mehr vergab. Vor einigen Jahren nahm das höchste Gericht dann einen Kurswechsel vor. Seither verlangt es für solche «unklaren Beschwerdebilder» eine Einzelfallprüfung.
Die IV-Stellenkonferenz teilt auf Anfrage mit: «Wer Anspruch auf eine Rente hat, der bekommt sie auch.»
Was in der Theorie gut klang, änderte in der Praxis wenig. Eine Untersuchung der Universität Zürich zeigte, dass von 300 geprüften Fällen vor Gericht lediglich in einem Fall eine IV-Rente gesprochen wurde. Spezialisierte Anwält*innen kritisieren, dass sich auch mit der neuen Rechtsprechung immer etwas finden lasse, um den Antrag abzulehnen. «Geht jemand häufig in die Kirche, spaziert regelmässig mit dem Hund oder schreibt zu oft in eine Facebook-Gruppe, heisst es von der IV: ‹Wer das kann, kann auch arbeiten›», so der Luzerner Anwalt Christian Haag.
Die IV-Stellenkonferenz teilt auf Anfrage mit: «Wer Anspruch auf eine Rente hat, der bekommt sie auch.» Geschäftsführerin Astrid Jakob sagt zur Kritik an der IV-Praxis: «Dass die IV restriktiver geworden ist, war ein politischer Entscheid. Es ist unser gesetzlicher Auftrag, die Entscheide umzusetzen. Eine Bewertung der Entscheide steht uns nicht zu. Kein Mitarbeiter bekommt einen Bonus, wenn er Renten streicht.»
Aber: Die IV muss nach wie vor all jene unterstützen, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen dauerhaft erwerbsunfähig sind. So steht es auch im Gesetz. Dabei darf keine Rolle spielen, wie viel Geld noch im «Kässeli » ist. «Die IV wird allerdings eher so geführt, als habe sie ein plafoniertes Budget», kritisiert Rechtsprofessor Thomas Gächter von der Universität Zürich. Dabei dürfte sie durchaus ein Defizit machen. Denn: «In einem Sozialversicherungssystem darf die Finanzierung keine Rolle spielen, wenn die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind.»
Gemäss Gächter überwälzt die Politik zurzeit den Spardruck der Verwaltungspraxis. Dies sollte nicht sein. «Damit das Gesetz eingehalten wird, müsste die Politik entweder für zusätzliche Finanzierung sorgen oder dann halt die Leistungen nach unten korrigieren.» In anderen Worten: Wenn die IV zu wenig Geld hat, müsste sie entweder dazu stehen, dass sie nicht alle unterstützt, die dauerhaft erwerbsunfähig bleiben, und dies ins Gesetz schreiben – zum Beispiel indem sie keine Teilrenten mehr ausrichtet. Oder aber sie müsste beispielsweise den Beitragssatz erhöhen. Beides wären politische Entscheide, die derzeit tabu sind. Und das werden sie so lange bleiben, wie die IV und das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) so tun, als wäre alles in Ordnung.