ME/CFS Verein Schweiz

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Fin du Siecle

Begriffe wie «Neurasthenie», «Nervosismus» und «Hysterie» wurden zu einem regelrechten Dauerbrenner der viktorianischen Epoche und des Fin de siecle. Hinzu werden bis heute Referenzen gefunden in diversen Kunstformen. 

Aus praktischen Gründen wird hier auf Vertiefung in die Scharlatanerie verzichtet. Stattdessen widmen wir uns vorwiegend den Beiträgen der drei wichtigsten Persönlichkeiten. Dr. Jean-Martin Charcot, Dr. Jozef Babinski und Dr. Sigmund Freud.

"Americanitis” und weitere Begriffe

Zahlreiche, mehr oder weniger seriöse Vertreter der heilenden Berufe produzierten laufend diverse Theorien und Therapieverfahren. Auch tauchten immer neue, oft kuriose Bezeichnungen auf. So popularisierten der Psychologe, William James, sowie der Drogist, W.S. Lloyd, den Begriff «Americanitis», da sie die schnelle, amerikanische Lebensart verantwortlich machten für das Krankheitsbild. [1] Hierfür stellte Herr Lloyd auch den «Rexall Americanitis Exilir» her zur «Tonung der Nerven zwecks Stärkung gegen die unnatürlichen Forderungen». [2]

Es kursierten aber allerlei weitere Begriffe wie «The English Malady» («Das Britishe Leiden»), «Globus hystericus» («Frosch im Hals» bei Beunruhigung), «Amerikanische Nervosität», «Nervenschwäche» oder «Lymphaticismus» (dies eher in Osteuropa und unter Annahme eines Lymphüberschusses als Ursache für Trägheit und Krankhaftigkeit). Die damaligen Zeitungen und Zeitschriften aus den USA und Europa waren voll von Werbungen und Vermutungen – neben diversen Flüssigkeiten, Pülverchen, Extrakten und Salben wurden auch Massagegeräte, Vibratoren, Bäder, Elektrotherapien, Hypnosen und weitere Kuren als wirksam gepriesen. 

 QUELLEN: 

[1] “Neurasthenic Nation: America’s Search for Health, Happiness, and Comfort, 1869 – 1920 (Critical Issues in Health and Medicine), 1st Edition”David G. Schuster
Rutgers University Press, Published 2012

[2] «The Brief History of Americanitis»Greg Daugherty
Smithsonian, Published 25.03.2015

Dr. Jean-Martin Charcot

Dr. Charcot, geboren in Paris, Frankreich, wurde bereits zu seinen Lebenszeiten weltberühmt angesichts seiner kompromisslosen Entwicklungen auf dem Gebiet der Anatomie, Neuroanatomie, Pathologie und Neurologie. Sein Name ist bis heute mit zahlreichen, medizinischen Eponymen assoziiert (z.B. Charcot-Fuss bei Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie). 

Jean-Martin Charcot, als medizinische und populistische Legende, prägte Generationen von weiteren Entwicklungen. Seine Inhalte wurden dabei aber öfters ungenau oder sogar falsch weitergegeben. Dies, zusammen mit seiner grossen Reichweite, öffentlichen Vorführungen und bestrittenem Einsatz von photographischen Mitteln, trug in wesentlichem zum stigmatisierenden Bild der Hysterie bei – vereinfacht gesagt haben ganze Generationen die Bilder von «spinnenden Frauen» nicht mehr aus ihren Köpfen heraus gebracht.  

 

Dr. Charcot und die Hypnose

Dr. Jean-Martin Charcot, der französische «Vater der Neurologie», wird am häufigsten assoziiert mit seinen Arbeiten in Bezug auf Hysterie und Hypnose, welche er dann mit Einbezug seiner PatientInnen regelmässig vorführte. Seine berühmteste Vorführ-Hysterie-Patientinnen waren Louise Augustine Gleizes und Marie Whitmann, welche auch häufig verwechselt werden. Es ist auch Louise Augustine, die durch Andre Brouillet im 1887 auf dem Bild «Une leçon clinique à la Salpêtrière» verewigt wurde, welches so häufig im Zusammenhang mit dieser Thematik reproduziert wird.  Unter Umständen wurde aber Marie Whitmann noch berühmter – sie brannte sich dauerhafter im kollektiven Bewusstsein ein als «Blanche» oder «Königin der Hysterie».

 

Umstrittene Entwicklungen

Die Ideen von Dr. Charcot wurden häufig aufgenommen, weiterverbreitet und adaptiert und seine Person von einer imposanten Anzahl und Intensität an sozialen Phänomenen umwoben. Nicht nur damals sondern auch später wurden die Umstände um Dr. Charcot und seinen PatientInnen ein nahrhafter Boden für weitere Werke – von Fiktion, über Halbwahrheiten bis hin zu soliden Abarbeitungen. So beschrieb der französische Kunsthistoriker, Georges Didi-Huberman, eine ganze Reihe an nicht besonders wissenschaftlichen Ansätzen vor allem im Bezug auf das damalige technische Novum – die Photographie. Dr. Charcot war unter den Pionieren zu finden, welche die Photographie zu Dokumentationszwecken verwendete – so war bereits deswegen das Interesse der Patienten gross, mitzumachen. Didi-Hubermann schrieb auch von einem Vorführungspakt zwischen Dr. Charcot und Louise Augustine Gleizes - die damit verbundenen, regelmässigen Vorführungen verursachten zunehmende Dekompensation der Patientin, so dass der Pakt mit ihrem mysteriösen Verschwinden zu Ende kommen musste. [1] 

Auch die Umstände um die zweite Musterpatientin, Marie «Blanche» Wittmann, sind schwammig – diese angehende Krankenschwester wurde vom Dr. Charcot während ihrer Arbeit in der Salpêtrière bemerkt und als Patientin stationär aufgenommen. Ihre Auftritte unter Hypnose seien so sensationell gewesen, dass ebenso Sigmund Freud darüber berichtete (eine Reproduktion der «Une leçon clinique à la Salpêtrière» war auch in seinem Arbeitszimmer oberhalb der berühmten Analyse-Couch aufgehängt). Nach dem Tod von Charcot im 1893 hatte Marie scheinbar aber keine weiteren hysterischen Anfälle mehr. Der schwedische Schriftsteller, Per Olov Enquist, beschäftigte sich in seinem Roman mit dem späteren Leben von «Blanche», angeblich anhand ihrer Memoiren, wo sie ihren Werdegang zur Laborhelferin von Marie Curie-Skłodowska (die polnisch-französche Entdeckerin von Radon und Polonium) angeblich beschrieben hatte. Gemäss des Romans und der berufenen Memoiren musste «Blanche» sich mehrere Amputationen unterziehen lassen aufgrund einer Strahlenvergiftung. Die geschichtliche Korrektheit ist hier aber höchst zweifelhaft.     

QUELLEN: 

[1] “Invention of Hysteria: Charcot and the Photographic Iconography of the Salpetriere”Georges Didi-Hubermann, Translated by Alisa Hartz
Published June 2003

 

Das Erbe von Dr. Charcot

Angesicht der vielen weiteren solchen Gegebenheiten fällt es einem heutzutage schwer die tatsächlichen Inhalte von Dr. Charcot herauszufiltern – trotz seinen grossen Verdiensten für die Medizin. Es ist auch erstaunlich wenig separates Textmaterial zu finden, welches von ihm direkt stammen würde – er schien doch ein Bühnenmensch und ein direkter Ausbildner gewesen zu sein. So verdanken wir die meisten Informationen seinen einzelnen Büchern, diversen Überlieferungen sowie der monströsen Transkriptionsserie seiner Vorlesungen / Lektionen in «Leçons sur les maladies du systeme nervaux, Volumina 1 – 4». In diesen Transkripten sucht man aber den Begriff «Neurasthenie» vergeblich. Dr. Charcot fasste ein ganzes Spektrum an Auffälligkeiten ausschliesslich unter dem Dachbegriff der «Hysterie». Der Hauptteil des ersten Bandes seiner Transkripte ist den separat aufgeführten, hysterischen Phänomenen gewidmet. So beschrieb Dr. Charcot dort akribisch folgende hysterische Gegebenheiten: Ischurie (Harnverhalt), Hemianästhesie (Halbseitliche Verminderung der Sensitivität), ovarielle Hyperästhesie (Vermehrte Empfindlichkeit der Eierstöcke), Kontrakturen, Hystero-Epilepsie und die rhythmische Chorea («Veitstanz» - unwillkürliche, unregelmässige Bewegungen der Muskulatur). [2] Auch in weiteren Bänder sind aber zahlreiche Verknüpfung an hysterische Varianten diverser weiterer Manifestationen zu finden (z.B. Veränderung des Sichtvermögens).     

QUELLEN: 

[2] “Leçons sur les maladies du systeme nervaux, Tome Premiere, Quatrieme Edition”Jean-Martin CharcotCerf et Fils, Imprimeurs, Rue Duplessis, Versailles, 39. Published 1880. 

Behandlungsansätze

Zur Behandlung der Hysterie verwendete Dr. Charcot vor allem Hypnose, Physiotherapie, Hydrotherapie, Elektrotherapie sowie «ovarielle Kompression» (Druckausübung auf die Eierstöcke – initial manuell, später mit einer selbst entwickelten Kontraption). [3] Zu einem gewissen Grad betrachteten er und seine Kollegen auch die Anfälligkeit für Hypnose als ein Merkmal der Hysterie.

QUELLEN: 

[3] “History of Physical and ‘Moral’ Treatment of Hysteria”Emmanuel Broussolle et al.
Front Neurol Neuosci, Karger, Published 2014, vol 35 pp 181 – 197

Dr. Jozef Babinski

Dr. Babinski wurde vom Jean-Martin Charcot ausgebildet und übernahm auch initial seine Überzeugung im Bezug auf Hysterie. Er revidierte jedoch zunehmend diese Einsicht. Im Rahmen einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit neurologischen Manifestationen diverser Erkrankungen meinte er zunehmend, dass organische Ursachen reproduzierbare und provozierbare Zeichen haben – im Gegensatz zur Hysterie. So setzte er unter anderem sein berühmtes Pyramidenbahnzeichen ein, den «Babinski-Reflex», als Trennungsinstrument ein.

Babinski und seine Kollegen trugen sehr viel zum heutigen Verständnis der allgemeinen Psychotraumatologie bei. Ihre Konzepte dienten als Grundsteine für die spätere Definition und Handhabung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). Babinski’s Anwendung von Isolation und Gegenüberzeugung waren auch nichts Anderes als die Vorreiter der kognitiven behavioralen Therapie (CBT). 

Aus der heutiger Sicht war aber die spätere Tendenz ME/CFS und PTSD mit einer «krankhaften Selbstüberzeugung» gleichzusetzen öfters katastrophal – zahlreiche Betroffene haben freiwillig oder erzwungen diverse PTSD-Protokolle absolviert und mussten sich anhören, wie die fehlende Besserungen auf ihren mangelnden Willen zurückzuführen ist.  

 

Der Fall von Gabriele H.

In 1900 präsentierte Dr. Babinski den Fall von Gabrielle H., einer hysterischen Patientin mit gleichzeitiger rechtsseitiger Halbseitenlähmung («Hemiplegie»). Dank subjektiv erfassbaren Unterschieden der Körperhälften (Muskelspannungen und Reflexe) in verschiedenen Zuständen (normal, hypnotisiert, hypnotisiert-hysterisch, spontan-hysterisch) postulierte er auch getrennte Ursachen beider Leiden – die Halbseitenlähmung war konsequent immer da, während der «hysterische Anteil» ständig wechselte und keine objektiven körperlichen Befunde produzierte. [1]

QUELLEN:

[1] “Diagnostic différentiel de l'hémiplégie organique et de l'hémiplégie hystérique”
Joseph Babinski
Published by F. Lev, 1900

 

Die Apelle an die neurologische Gesellschaft

Am 7ten November 1901 appellierte er an die Société de Neurologie, die Bezeichnung «Hysterie» gänzlich abzuschaffen zugunsten seines Vorschlages, den «troubles pithatiques», später auch bekannt als «Pithiatismus». [2] Der Name bestand aus den altgriechischen «pythos» («Überzeugung») und «iathos» («heilbar») und implizierte einen pathologischen, korrigierbaren Zustand der Selbstüberzeugung. Die pithiatischen Symptome würden sich somit mit Hilfe von Hypnose vortäuschen / modulieren und mit Hilfe der Gegenüberzeugung eliminieren lassen. Sie wären auch nie von tatsächlichen Veränderungen der neurologischen Reflexe begleitet. Da Babinski eine festverankerte Fehl-Suggestion als ursächlich für «Pithiatismus» betrachtete, bestand seine Therapie vorwiegend aus gnadenloser Isolation der Patienten mit intensiven Massnahmen der Gegenüberzeugung. [3] Die Isolation diente hier dem Schutz von schädlichen Einflüssen, das Gegenüberzeugen einer heilenden Korrektur. Hierunter beobachtete er Besserungen bis Heilungen.  

Die Ideen von Babinski wurden vorerst weitgehend ignoriert - bis zu seinem erneuten Appel im 1907 und späterer Inkorporation in den militärischen Umgebungen angesichts deren Anwendbarkeit im Bezug auf posttraumatische Veränderungen der Gesundheit und des Verhaltens. 

QUELLEN:

[2] “Joseph Babisnki (1857 1932): A neuroscientist behind a famous clinician”Fracous Clarac, Jean Massion, Allan M. Smith
Evernote Web, Published online December 15 2012.

[3] «Babinski the great: Failure did not deter him”Man Mohan Mehndiratta et al.
Annals of Indian Academy of Neurology, Published Jan-Mar 2014; 17 (1) : 7 -9

 

Die Kooperation mit Dr. Forment während des ersten Weltkrieges

Die auf den ersten Weltkrieg bezogene Arbeit von Dr. Babinski und Dr. Forment aus 1918 ist eine der vollumfänglichsten Rapporte über Zusammenhänge und Manifestationen, welche zum Formenkreis der «Hysterie» / des «Pithiatismus» gehörten. [4] Hier lesen wir z.B.: «In den Fällen, mit denen wir uns beschäftigen, Hysterie war entweder rein oder assoziiert mit unterschiedlichen, organischen Leiden, und die letzte Form schien uns am häufigsten vorzukommen. (…) Der jetzige Krieg, welcher alle andere übertrifft in Anzahl der Involvierten, Fortschrittgrad der Destruktionsmotoren und Dauer, bietet eine einmalige Gelegenheit denjenigen an, welche die Wichtigkeit von verschiedenen, provokativen Faktoren der Hysterie untersuchen wollen. Wir vermerken, dass Prädispositionen, persönliche oder hereditäre Vorgeschichte, die Natur des Individuums und dessen emotionale Konstitution von sekundärer Bedeutung zu sein scheinen. Die kontemporären, hysterischen Symptome scheinen vorwiegend durch moralische und körperliche Anstrengung zu entstehen, welche die physischen Widerstandskräfte vermindern und zu derartigen Leiden prädisponieren, egal wie resilient einer zu erscheinen mag.»  

Babinski und Forment bezogen sich auf zahlreiche Beobachtung durch sie selber sowie ihre Kollegen und veranschaulichten zahlreiche Aspekte der hysterischen / pithiatischen Phänomene. So schienen einmalige oder sogar serielle und hochemotionelle Vorkommnisse weniger ausschlaggebend zu sein als die dominierende Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit. Die Autoren stellten somit die rein-emotionale Genese für höchstfraglich. Auffällig war die deutliche, öfters mehrwöchige Verzögerung in der Manifestation der hysterischen Beschwerden nach zahlreichen, stressigen Expositionen sowie auch das Nachlassen davon in weiteren Überlebenskrisen.  So wurden die Kriegsopfer erst «im Sicheren» wirklich krank und konnten bis dahin erstaunlich gut kompensieren.  Die ersehene Erholung brachte jedoch auch nach Wochen und Monaten keine Resolution. 

QUELLEN:

[4] “Hysteria, or pithiatism, and reflex nervous disorders in the neurology of war”Babinski et J. Froment, Edited by Farquhar Buzzard
Englisch Version printed by University of London Press Ltd. in 1918