NZZ am Sonntag – Die Unsichtbaren
60000 Menschen leiden in der Schweiz an einer unheilbaren chronischen Krankheit,Tendenz steigend. Trotzdem schiebt die Politik das Thema vor sich her.
NZZ am Sonntag ,6. August 2023
Von Naomi Gregoris (Text), Yves Bachmann (Bilder)
(Der Artikel wurde uns freundlicherweise von der NZZ zur Verfügung gestellt)
Wenn es nicht mehr weitergeht, träumt sich Claudia Schneider weg. Sie gleitet dann aus ihrem Körper hinaus, weg von der kaum aushaltbaren Übelkeit, den Glieder- und Kopfschmerzen. In solchen Momenten findet sie sich auf einer Wiese wieder, vor sich das Pferd, das sie sich immer gewünscht hat. Sie gibt ihm einen Apfel und reitet davon, frei und gesund.
In Wahrheit liegt sie zu Hause im Bett und wartet auf ihren Mann. Durchhalten bis 18 Uhr, dann kann sie ihm die zwei Kinder, die noch daheim wohnen, übergeben und die Schlaftabletten nehmen. In die formlose Dunkelheit abtauchen und hoffen, dass es am nächsten Morgen wieder besser wird.
Claudia Schneider hat Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Die Forschung weiss seit Jahrzehnten von dieser Erkrankung, schon 1969 nahm die Weltgesundheitsorganisation sie in ihren internationalen Klassifizierungskatalog auf. Trotzdem ist die Datenlage erschreckend bescheiden. Man weiss weder genau, was ME/CFS auslöst, noch wie es zu behandeln ist. Vielen Betroffenen sieht man auf den ersten Blick nicht an, dass sie krank sind, es gibt keine Tumore, keine Herzfehler, keine auffälligen Hirnbilder.
Häufig sind Frauen betroffen, noch häufiger Menschen zwischen 20 und 50 Jahren. Mögliche Auslöser sind Viren wie die Grippe, das Epstein-Barr-Virus oder Covid-19. Entsprechend erhöht hat sich seit der Pandemie die Anzahl der Betroffenen. Die Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS geht von derzeit etwa 60 000 erkrankten Menschen in der Schweiz aus, in Deutschland sind es 500 000, weltweit zwischen 17 und 30 Millionen.
Den leicht Betroffenen wird misstraut. Nach dem Motto: Wer noch draussen herumlaufen kann, dem wird es so schlecht nicht gehen.
Es gibt unterschiedliche Schweregrade von ME/CFS, aber jeder ist auf seine Weise einschneidend. Die Bandbreite reicht von Schwerstkranken, die permanent in abgedunkelten Zimmern liegen müssen, zu leicht Erkrankten, die Teilzeit arbeiten können, aber Aktivitäten drastisch einschränken müssen. Ein Viertel aller an ME/CFS Erkrankten können das Haus nicht mehr verlassen, schätzungsweise 60 Prozent sind arbeitsunfähig.
Obwohl ME/CFS keine seltene Erkrankung ist, ist sie nicht Teil des Medizinstudiums. Es gibt nur eine Handvoll Fachpersonen in der Schweiz, wer Glück hat, erwischt einen Arzt, der schon einmal davon gehört hat. Andernfalls erwartet den Betroffenen eine jahrelange Suche nach der richtigen Diagnose. Laut einer Erhebung des Tropeninstituts Basel besucht eine erkrankte Person während 6,7 Jahren elf medizinische Fachpersonen, bevor sie die Diagnose ME/CFS erhält.
Claudia Schneider ist seit zwölf Jahren erkrankt, die Diagnose hat sie seit letztem Jahr. «Aber bringen tut dir das nichts.» Spezialisierte Reha-Kliniken gibt es in der Schweiz nicht. Aktivierungstherapien, die in Kliniken gegen Erschöpfungszustände eingesetzt werden, führen bei ME/CFS-Betroffenen zu einer häufig irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands. Ein paar Tage Aktivierung in der Reha können mehrere Monate Bettlägerigkeit auslösen.
«Wie ein Auto im ersten Gang»
60 000
So viele Personen sind hierzulande gemäss Schätzung der Schweizerischen Gesellschaft für ME/ CFS erkrankt.
6,7 Jahre
So lange dauert es gemäss einer Studie des Tropeninstituts Basel, bis Erkrankte die Diagnose ME/CFS erhalten.
Charakteristisch für ME/CFS ist eine verzögerte, aber anhaltende Verstärkung aller Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Sprich: Ein erkrankter Mensch kann an einem Tag das Gefühl haben, er könne einen ausgedehnten Spaziergang machen – und das auch durchführen. Am nächsten Tag schnellt die Krankheit wie ein Bumerang zurück und zwingt zu tage-, wochen-, teilweise sogar monatelanger Bettruhe. Selbst kleine Aktivitäten wie Zähneputzen oder Aufräumen können zu Erschöpfung, stärkeren Gliederschmerzen, Übelkeit, Konzentrationsund Wortfindungsschwierigkeiten führen.
Für Schwerstbetroffene reicht das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum. Alle Schweregrade verbindet das Gefühl, unsichtbar zu sein: Schwer Erkrankte wie Claudia Schneider verschwinden aus der Öffentlichkeit, weil sie ihr Haus nicht verlassen können. Den leicht Betroffenen hingegen wird misstraut. Nach dem Motto: Wer noch draussen herumlaufen kann, dem wird es so schlecht nicht gehen.
Dabei organisieren jene Erkrankten, die noch dazu in der Lage sind, akribisch ihren Energiehaushalt, um am Leben teilzunehmen. «Ich bin wie ein Auto, das nur im ersten Gang fahren kann», sagt Lorenz Bucher, ein 40-jähriger Software-Architekt aus Zürich. «Wenn ich hochschalte, stelle ich ab, wenn ich längere Zeit zu schnell im ersten Gang fahre, überhitze ich.»
Buchers Tage beinhalten drei bis vier Stunden Arbeit, eine Freizeitaktivität und eine soziale Aktivität. Den Rest des Tages muss er ruhen und sollte seinen Puls möglichst unter 110 halten. Einkaufen gilt als Aktivität, genauso ein Abendessen kochen oder dieses Gespräch führen. Übernimmt Bucher sich, muss er die nächsten Tage mit stärkeren Schmerzen und einer Reihe von grippeartigen Symptomen dafür büssen. Er gilt als leicht betroffen.
Lorenz Bucher ist vor seiner Erkrankung ein aktiver Mensch, er arbeitet Vollzeit, reist gerne, spielt in einer Band. Seine Erkrankung beginnt 2020 mit einer Epstein-Barr-Infektion, welche ihn mehrere Monate mit starken Symptomen ans Bett fesselt. Er erholt sich nie ganz, arbeitet nur noch reduziert.
Ein Jahr später lässt er sich in einem Routineeingriff eine Zyste entfernen, wacht aus der Narkose auf und hat «einen Riesenschritt nach hinten gemacht». Am Ende dauert es 43 Wochen, bis die Wunde verheilt ist, Bucher ist monatelang krankgeschrieben, kann das Haus nicht verlassen. In dieser Zeit bekommt er die Diagnose ME/CFS.
Es folgt eine Covid-19-Infektion, dann wieder fünf Monate im Bett. Seit Januar dieses Jahres arbeitet er wieder, im 40-Prozent-Pensum, sehr flexibel und in direkter Nähe zum Wohnort. «Alles Faktoren, die mir das Arbeiten überhaupt ermöglichen.»
Als 2020 die Corona-Pandemie beginnt, bekommt ME/CFS eine neue Dringlichkeit. Die Erkrankung gilt als schwerstmögliche Folge einer Infektion mit Covid-19, was den seit Jahren engagierten Erkrankten, zu denen auch Bucher und Schneider gehören, eine vermehrte öffentliche Wahrnehmung verschafft.
2020 beschliesst das EU-Parlament die Finanzierung von Forschung und Kampagnen. Seit 2021 gibt es in Grossbritannien neue Richtlinien für den Umgang mit ME/CFS, 2020 werden in Deutschland 10 Millionen Euro für eine klinische nationale Studiengruppe gesprochen, die Therapieansätze prüfen und zu rascher Zulassung bringen soll.
Geld für die Forschung fehlt Während das Thema international an Tempo gewinnt, hinkt die Schweiz hinterher. Vom Bund gibt es weder Forschungsgelder noch Massnahmen zur Gesundheitsversorgung von ME/CFS-Patienten. Im März dieses Jahres reichte die SP-Nationalrätin Yvonne Feri ein Postulat ein, das vom Bundesrat einen Bericht über die Forschungs- und Versorgungssituation zu ME/CFS in der Schweiz fordert. Sie ist nicht die Erste. Bereits 2018 und 2020 gab es entsprechende Geschäfte. Doch Feris Vorstoss wird mit derselben Begründung der vergangenen Jahre abgelehnt: Die Kantone seien für die Gesundheitsversorgung zuständig, die medizinischen Fachorganisationen für Empfehlungen, und Weiterbildungen.
«Es ist kaum zu fassen, wie gleichgültig diese Antwort daherkommt», sagt Jonas Sagelsdorff von der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS. Obwohl die Zahlen steigen, halte der Bundesrat an seiner Argumentation fest. Besonders perfide findet er das Abwälzen auf sogenannte «medizinische Fachorganisationen». «Es gibt keine medizinische Fachorganisation zu ME/CFS in der Schweiz. Wir nehmen das aber gerne auf, wenn der Bund die Gründung einer solchen Organisation ermöglicht. » Die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS erhält keine Gelder vom Bund oder den Kantonen, alle Arbeiten werden von einem kleinen Team geleistet –unentgeltlich.
Lorenz Bucher, Claudia Schneider und alle Betroffenen, mit denen wir für diesen Artikel geredet haben, wünschen sich dasselbe: Anerkennung ihrer Krankheit. In der Gesellschaft, der Lehre, bei den Hausärzten, in den Reha-Zentren, bei der IV. «In den Augen der Leistungsgesellschaft taugen wir nichts mehr», sagt Schneider. «Also lässt sie uns fallen. Aber wir werden immer mehr – und diesen volkswirtschaftlichen Schaden will ich mir nicht ausmalen.»