Republik: Long Covid in seiner schlimmsten Form
Das Chronische Fatigue-Syndrom trifft Millionen von Menschen, und es ist lange bekannt. Doch Patientinnen wurden psychologisiert, stigmatisiert und falsch behandelt. Erst Long Covid brachte ein Umdenken.
Von Theres Lüthi, erschienen bei Republik.ch
In dunkle Jogginghosen und ein Baumwollshirt gekleidet sieht Lisa Burger so aus, als habe sie den Abend zuvor ausgiebig genossen und gehe es nun gemächlich an. Doch Lisa Burger, die eigentlich anders heisst, erholt sich an diesem Samstag nicht vom Feiern, sie muss mit ihren Kräften exakt haushalten. In ihrer abgedunkelten Wohnung kann sie eine Stunde lang sprechen, dann ist die Batterie leer. Morgen kann sie vielleicht duschen und die Geschirrspülmaschine ausräumen.
Lisa Burger ist 34 Jahre alt und Projektmanagerin bei einer grossen Schweizer Firma. Ihre Arbeitskollegen bezeichnen sie als «Energiebündel» mit einem «einmaligen Lachen». Das war zumindest bis vor knapp drei Jahren so.
Im Januar 2022 infiziert Lisa Burger sich mit Corona und wird krankgeschrieben. Zwei Wochen später kehrt sie zwar zur Arbeit zurück, aber sie merkt rasch, dass etwas nicht stimmt.
Es folgt eine Ärzte-Odyssee. «Ich bin ein Paradebeispiel dafür, wie man durch Nichtwissen und Fehlbehandlung jemanden invalidisieren kann», sagt sie. Die Diagnose Long Covid wird zwar rasch gestellt, ihre Beschwerden werden aber trotzdem bagatellisiert. Ein Arzt habe ihr gesagt: «Ich sehe nichts in Ihrem Blut, Sie haben eine schlechte Kondition und müssen Sport treiben.» Eine Ärztin: «Ich habe auch Long Covid, aber ich gehe trotzdem arbeiten.»
Am meisten irritieren Lisa Burger aber die psychologisierenden Bemerkungen. Anstatt auf ihre Beschwerden einzugehen, hätten Fachpersonen sie Dinge gefragt wie: «Hatten Sie ein Trauma in der Kindheit?» Oder gesagt: «Die Personen, die zu mir kommen, haben drei Gemeinsamkeiten: Es sind alles Frauen, sie spüren ihren Körper sehr gut, und sie sind sensibel.»
Lisa Burger geht es immer schlechter. Sie arbeitet im Homeoffice und schraubt ihr Leben auf ein Minimum zurück – bis auf den Sport am Wochenende, den ihr der Arzt vorschreibt. Sie, die ihr ganzes Leben lang gerne Sport getrieben hat, spürt aber, dass er ihr gar nicht guttut. Am nächsten Tag folgt jeweils der Crash: Ohrenschmerzen, Hals- und Kopfschmerzen, allgemeine Grippesymptome. Sie sagt: «Ich ertrage dann kein Licht mehr, empfinde Geräusche als schmerzhaft und der Körper fühlt sich so an, als wäre ich am Vortag einen Halbmarathon gelaufen, hätte danach zwei Liter Wodka getrunken und hätte einen Jetlag. Man wacht morgens auf und der Körper ist komplett energieentleert.»
Lisa Burger ist jetzt seit zwei Jahren zu 100 Prozent krankgeschrieben. 2023 stellt ein Arzt in der Seegarten-Klinik in Kilchberg die Diagnose ME/CFS. Die Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom, es ist die schwerste Form von Long Covid. Doch ME/CFS ist keine neue Krankheit, sondern schon Jahrzehnte vor der Pandemie beschrieben worden.
Den Umgang mit ME/CFS hat der britische Journalist George Monbiot kürzlich in einem viel beachteten Kommentar als den grössten medizinischen Skandal des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Obwohl weltweit zwischen 17 und 30 Millionen Menschen betroffen sind, wurde die Krankheit von der Forschung und der Öffentlichkeit über Jahrzehnte ignoriert. Schlimmer noch: Die Patientinnen, vor allem Frauen, wurden beschuldigt, sich die Krankheit einzubilden. So, wie es auch bei Multipler Sklerosegeschehen war, bevor es möglich wurde, mithilfe der Magnetresonanztomografie die Entzündungsherde sichtbar zu machen.
Durch Covid ist die Zahl der Betroffenen noch mal deutlich gestiegen, infolgedessen erhält die Krankheit nun endlich mehr Aufmerksamkeit.
Eine Krankheit, nur fehlen die Beweise
Was weiss man über ME/CFS? Zumindest so viel: Es zählt zu den postinfektiösen Krankheiten, in mindestens 70 Prozent der Fälle geht eine Infektion voraus, in den meisten Fällen mit einem Virus: Influenza, Pfeiffersches Drüsenfieber, Ebola, selbst für die Russische Grippe in den Jahren 1889 und 1890 gibt es historische Hinweise.
Fachleute sind auch über das Auftreten der Krankheit infolge einer Covid-Infektion nicht überrascht. Michael Stingl ist Neurologe in Wien und einer der renommiertesten Spezialisten für ME/CFS. Er sagt: «Dass die Covid-Pandemie zu einer Welle von ME/CFS-Fällen führen würde, war allen von Anfang an klar, die sich damit beschäftigen oder davon betroffen sind.»
ME/CFS ist eine schwere Multisystemerkrankung und nicht zu verwechseln mit Erschöpfung, die beispielsweise nach einer Grippe auftreten kann. Offiziell anerkannte Biomarker im Blut, mit denen man die Krankheit diagnostizieren könnte, gibt es aber bisher keine. Nach gängigen Kriterien scheinen die Betroffenen also gesund zu sein. Durch aufwendige Verfahren lassen sich Fehlfunktionen des Nerven- und des Immunsystems sowie bei der zellulären Energiegewinnung nachweisen, diese Verfahren können allerdings nur in wenigen spezialisierten Zentren durchgeführt werden. Heute wird die Krankheit anhand der Symptome mithilfe internationaler Konsenskriterien diagnostiziert.
Kernmerkmal von ME/CFS ist die «Post-exertionelle Malaise», bei der es nach körperlicher oder kognitiver Anstrengung zu einer lang anhaltenden Verschlechterung der Symptome kommt. Patientinnen beschreiben dies als «Crash».
«ME/CFS kann sich sehr unterschiedlich präsentieren, doch die Post-exertionelle Malaise, kurz PEM, ist der gemeinsame Nenner», sagt Stingl. «Daneben gibt es viele Symptome, die sich in verschiedenen Körpersystemen manifestieren können, mehr oder weniger stark ausgeprägt sind und oft schubweise verlaufen.» Das sind zum Beispiel Muskelschmerzen, Herzrasen, Blutdruckschwankungen, Verdauungsbeschwerden, wiederkehrende Grippesymptome oder lähmende Erschöpfung.
Laut internationalen Schätzungen sind 0,3 bis 0,8 Prozent der Bevölkerung betroffen. Das bedeutet, in der Schweiz leben, konservativ geschätzt, 30’000 bis 40’000 Menschen mit dieser Krankheit, die damit häufiger auftritt als Multiple Sklerose. Zwei Drittel der Patientinnen sind Frauen, am häufigsten beginnt die Erkrankung im Jugendalter oder um die Mitte dreissig.
Etwa die Hälfte der Betroffenen ist arbeitsunfähig, ein Viertel an das Haus gebunden. Die Schwerstbetroffenen sind bettlägerig und verbringen ihre Zeit in abgedunkelten und schallisolierten Räumen, jede Bewegung wird zum Kraftakt. Manche müssen künstlich ernährt werden, weil sie keinen Löffel mehr halten können.
Wer Glück hat, kann lernen, sorgsam mit den vorhandenen Energieressourcen umzugehen, und kann, dank verständnisvollen Arbeitgebern, sogar arbeiten. Ungefähr die Hälfte der Patientinnen schafft dies. Häufig geht das aber nur, weil sie auf Freizeitaktivitäten verzichten und ihr Sozialleben stark einschränken.
Rea Tschopp, Epidemiologin am Swiss Tropical and Public Health Institute in Allschwil, erkrankte vor 30 Jahren selbst an ME/CFS und war einige Zeit bettlägerig. Über die Jahre hat sie Techniken entwickelt, um ihre Energie effizient zu nutzen. Das hat ihr geholfen, ihre Symptome zu lindern und ihre Lebensqualität erheblich zu verbessern.
Tschopp hat die bisher einzigen publizierten Studien zur Situation von ME/CFS-Betroffenen in der Schweiz durchgeführt. 169 Betroffene hat sie dafür 2021 befragt. Die kürzlich publizierten Ergebnisse sind erschreckend. Zwei Drittel der Befragten erlebten eine Stigmatisierung, die sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkte. 90 Prozent der Befragten gaben an, nicht ernst genommen zu werden, fast 40 Prozent berichteten, sie hätten mindestens einmal während der Krankheit Selbstmordgedanken gehabt. Tschopp sagt: «Verantwortlich hierfür war unter anderem die Behauptung, die Krankheit sei psychosomatisch.»
Vor allem Patientinnen betroffen
Warum tut sich die Fachwelt so schwer, ME/CFS als Erkrankung ernst zu nehmen?
Zum einen sind postakute Infektionssyndrome tatsächlich ein «blinder Fleck» für die medizinische Forschung. Eine weitere Ursache dafür liegt in den Geschlechterstereotypen. «Argumentationsweisen, wie sie heute nicht mehr akzeptiert würden, fanden Eingang in die Forschung und beschäftigen uns bis heute», sagt Jonas Sagelsdorff, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS. In einem der vielen historischen und irreführenden Zeugnisse erklärt 1993 der britische Neurologe Peter Hudgson: «Ich will nicht zu sehr in eine sexistische Richtung gehen, aber vier Fünftel oder mehr sind Frauen im frühen mittleren Alter, die unbefriedigende Ehen haben und Kinder haben, die ihnen das Leben schwer machen. (…) Sie sind daran gehindert, das zu tun, was ihnen persönlich Erfüllung bringen würde.»
Den Patientinnen warf man vor, sich in ein gesundheitsschädigendes Verhaltensmuster hineinzusteigern. Um gesund zu werden, so die Empfehlung der Ärzteschaft, müssten Betroffene ihre Einstellung gegenüber der Krankheit ändern.
Dabei wurde ME/CFS als körperliche Erkrankung verstanden, als sie in den 1950er-Jahren in der medizinischen Literatur erstmals beschrieben wurde. 1969 klassifizierte die Weltgesundheitsorganisation ME als neurologische Erkrankung.
Doch nur ein Jahr später argumentierten zwei britische Psychiater im «British Medical Journal», dass der hohe Anteil junger Frauen unter den Betroffenen für Hysterie als Erklärung der Krankheit spreche. In den Folgejahren gewann das psychosoziale Modell immer mehr an Bedeutung, wonach die Krankheitsursache in der Psyche und im sozialen Umfeld zu finden sei. Ende der 1980er-Jahre deuteten einflussreiche Psychiater die Krankheit zum Chronischen Erschöpfungssyndrom um, das durch schädliche Gedanken- und Verhaltensmuster aufrechterhalten wird.
Auch in der Schweiz machte die psychosoziale Deutung Schule. Roland von Känel, Klinikdirektor für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich, propagierte jahrzehntelang die Theorie der «zentralen Hypersensitivität». Diese besagt, dass chronisches Fatigue Ausdruck eines übersensiblen Hirns sei und als ein zu sensibel auf Müdigkeitserleben eingestelltes Gehirn verstanden werde. Von Känel wollte sich für diesen Artikel zum Krankheitsverständnis von ME/CFS nicht mehr äussern.
«Das grosse Problem in der Forschung der letzten Jahrzehnte war, dass sehr verschiedene Krankheitsbilder miteinander vermengt wurden», sagt Neurologe Stingl. «An den Studien nahmen viele Leute teil, die nach heutigen Kriterien gar nicht ME/CFS hatten, sondern eine andere Form von chronischer Erschöpfung, die auf die gängigen Therapien ansprachen.»
Denn basierend auf dem psychosozialen Modell entwickelten Psychiaterinnen die kognitive Verhaltenstherapie und die graduierte Aktivierungstherapie. Dabei soll durch eine schrittweise Steigerung der Aktivität die Dekonditionierung behandelt werden. Bei Patienten mit ME/CFS aber kann dies grossen Schaden anrichten und zu einer dauerhaften Verstärkung der Symptome führen. Heute wird ausdrücklich davon abgeraten. Durch diese Fehlbehandlung dürften in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Menschen invalidisiert worden sein, weil sich ihr Zustand durch Überanstrengung nachhaltig verschlimmert hat.
Dabei lässt sich ME/CFS relativ einfach von einer chronischen Erschöpfung depressiven Ursprungs abgrenzen. Liegt bei Letzterer ein verminderter Antrieb vor, ist dieser bei ME unverändert stark, weshalb die Betroffenen immer wieder über ihre Belastungsgrenze hinausgehen und anschliessend crashen. Patientinnen mit ME/CFS müssen lernen, wo ihre individuelle Belastungsgrenze liegt, und diese diszipliniert einhalten.
Die Ursache dieser niedrigeren Belastungsschwelle bei ME/CFS sei noch unklar, es gebe aber Hinweise auf eine gestörte Energie- und Sauerstoffversorgung, sagt Stingl. Für den Neurologen wie auch für Immunologinnen, die sich mit der Krankheit beschäftigen, steht fest: «ME/CFS ist eine chronische Multisystemerkrankung, es ist keine psychische Erkrankung. Sie kann aber, wie das bei anderen Erkrankungen der Fall ist, zu grossen psychischen Belastungen führen.» Psychologische Unterstützung kann vielen Patienten helfen, mit der Krankheit besser umzugehen. Sie wird sie aber nicht heilen.
Dennoch sind es in der Schweiz oft Psychiaterinnen, die die Diagnose ME/CFS stellen, wie Rea Tschopp in ihrer Studie feststellte. Wenn Hausärzte im Blut nichts finden, überweisen sie die Patientinnen zum Psychiater. «Diese erkennen mit ihrer Expertise relativ schnell, dass kein psychisches Problem vorliegt.»
Neue Erklärungsansätze
Angesichts der grossen Zahl von Betroffenen, die die Covid-19-Pandemie hervorgebracht hat, wendet sich die Forschung nun vermehrt der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten zu. Was ME/CFS auslöst und warum nur manche Menschen die Krankheit entwickeln, wird derzeit untersucht. Forscherinnen gehen von verschiedenen Hypothesen aus. Im Zentrum steht eine übermässige und anhaltende Aktivierung des Immunsystems.
So könnten beispielsweise Virusreste im Körper chronische Entzündungen und damit anhaltende Symptome hervorrufen. Nach einer anderen Hypothese löst das Virus bei manchen Personen eine Autoimmunreaktionaus, bei der sich Antikörper gegen körpereigene Strukturen richten – etwa jene des vegetativen Nervensystems. Diskutiert wird zudem, dass akute Infektionen «schlafende» Viren im Körper reaktivieren, die chronische Entzündungen nach sich ziehen. Hinweise gibt es ferner auf Entzündungen im Gehirn und eine Fehlfunktion der Mitochondrien, der Kraftwerke der Zellen.
Für jede Hypothese lassen sich Therapieansätze entwickeln, und inzwischen laufen Dutzende von kleinen klinischen Studien. Doch ein Gegenmittel ist noch nicht in Sicht. Mehrere Studien mussten wegen mangelnder Wirksamkeit abgebrochen werden.
«Vermutlich gibt es bei ME/CFS verschiedene Untergruppen, zudem befinden sich Patienten in sehr unterschiedlichen Krankheitsstadien, und das macht es schwierig für klinische Studien», sagt Stingl. «Wenn man alle in einen Topf wirft, kommt nichts raus dabei.» Um wirksame Interventionen entwickeln zu können, müsse man die Diagnosekriterien schärfen und Unterformen definieren.
Einen Schritt in diese Richtung unternimmt nun in Grossbritannien DecodeME, die bisher grösste ME/CFS-Studie überhaupt. 18’000 Patientinnen nehmen daran teil. Dabei wird das gesamte Genom durchleuchtet und jene kleinen DNA-Unterschiede identifiziert, die betroffene Personen von Gesunden unterscheiden. «Wir testen etwa eine halbe Million Stellen im Genom und fragen jedes Mal: Haben mehr Menschen mit ME/CFS diesen genetischen Buchstaben, als man in der Allgemeinbevölkerung erwarten würde?», erklärt Chris Ponting von der Universität in Edinburgh, Genetiker und Co-Leiter der Studie. «Jede einzelne DNA-Veränderung dürfte für sich genommen nur eine kleine Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen, die Resultate könnten den Forscherinnen aber neue Anhaltspunkte liefern.» Solche Studien hätten bei anderen Erkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis oder Alzheimer bereits wertvolle Hinweise liefern können.
Laut Ponting darf die Bedeutung der Genetik bei ME/CFS nicht unterschätzt werden. So hätten gemäss einer Studie nicht nur die engsten Verwandten eines Betroffenen, sondern auch Verwandte zweiten und dritten Grades ein doppelt so hohes Risiko, an ME/CFS zu erkranken. Es braucht zwar einen externen Trigger, damit die Krankheit ausbricht – in den meisten Fällen eben ein viraler Infekt. «Die genetischen Signale könnten uns aber auf ein Problem im Immunsystem, in den Mitochondrien oder im Nervensystem hinweisen», sagt Ponting.
Was das Forschungsfeld jetzt am dringendsten benötige, so Ponting, sei ein robustes wissenschaftliches Fundament. «Über 90 Prozent der Studien, die auf dem Gebiet von ME/CFS publiziert wurden, sind nicht repliziert worden.» Das wäre aber wichtig, um zuverlässige Daten zu produzieren, auf denen die Forschung aufbauen und Fortschritte erzielen kann. «Es gibt so viele Hypothesen, aber wir haben erst wenige belastbare Resultate.»
Wie so viele Menschen, die sich mit dieser Krankheit beschäftigen, wurde Chris Ponting durch eine persönliche Beziehung auf ME/CFS aufmerksam. Ein guter Freund von ihm erkrankte als junger Erwachsener. «Er war eine durch und durch positive und charismatische Persönlichkeit, der auf alle Berge stieg. Warum würde so jemand jahrzehntelang in einem abgedunkelten Zimmer verbringen und auf ein Leben, auf eine Familie verzichten wollen? Wenn eine falsche Einstellung der Grund für die Krankheit wäre, wären diese Menschen nicht schon längst aus ihren Betten aufgestanden und hätten den Weg zurück ins Leben gewählt?»
Wie ist es möglich, dass eine Krankheit, die bereits 1969 von der Weltgesundheitsorganisation als neurologisch eingestuft wurde, so lange missverstanden werden konnte?
Otmar Hilliges ist Professor für Computer-Science an der ETH Zürich und war früher auch von den Medien geschätzt als Experte zu Fragen rund um neue Technologien, etwa bei «10 vor 10». Hilliges erkrankte 2023, nur wenige Wochen nachdem bei seinem Sohn Long Covid diagnostiziert worden war. Ein Jahr lang fehlte der 12-Jährige in der Schule, er konnte sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Inzwischen geht es ihm etwas besser und er kann mit Krücken wieder zur Schule. Hilliges selbst ist jedoch seit mehr als einem Jahr ans Bett gebunden.
In ihrer Wohnung führt seine Frau in ein stockdunkles Zimmer, in dem ihr Mann liegt. Es ertönt eine schwache Stimme, man muss sich anstrengen, um Hilliges zu verstehen. Doch seine Rede ist konzis, die Worte sorgfältig gewählt. Hilliges spricht, als hielte er eine Vorlesung:
Als Wissenschaftler ist es sehr frustrierend, zu sehen, wie wenig passiert, um ME/CFS zu erforschen, und vor allem, wie lange da so wenig passiert ist. Das ist skandalös, würde ich sagen. Die Frage ist, wieso das so ist.
ME/CFS ist eine typische Frauenkrankheit, es sind doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen. Leider ist es in unserer Gesellschaft immer noch so, dass weibliche Belange weniger zählen, gerade in der Medizin.
Dazu kommt die Unsichtbarkeit der Erkrankung. Wenn ich zum Arzt gehe, erscheine ich körperlich unversehrt. Ich verhalte mich etwas auffällig, bin empfindlich gegenüber Licht und Geräuschen, fürchte, mich zu überanstrengen. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin sich mit der Krankheit nicht auskennt, kommt das komisch rüber.
Zudem ist da der fehlende Biomarker. Den Standardlaborwerten zufolge ist alles in Ordnung. Da gibt es genug Mediziner, die einem ins Gesicht sagen: «Ihnen fehlt nichts.» Und ich verstehe, was sie meinen. In den Tests, die ich machen kann, findet man ja auch nichts. Aber es ist eine automatische Übersprungshandlung, bei der man dem Patienten die Schuld gibt. «Ich finde nichts, also müssen Sie sich das einbilden.» Die Schuldzuweisung ist da fast schon die logische, die einfachste Konsequenz.
Dazu kommt die gesellschaftliche Unsichtbarkeit. In dem Moment, in dem ich so krank geworden bin, bin ich komplett aus dem Leben geschieden. Ich kann nicht mehr zur Arbeit gehen, keine sozialen Kontakte pflegen und vor allem kann ich mich nicht für meine Belange einsetzen. Ich kann nicht auf die Strasse gehen und demonstrieren, kann keine Lobbyarbeit machen, nichts. Dementsprechend ist kein Druck da, und wo kein Druck ist, entsteht kein politischer Wille, kein Förderungswille. Wo keine Förderung ist, ist keine Wissenschaft.
Und schliesslich kommt die Komplexität der Krankheit. Man weiss immer noch nicht, was wirklich die Ursache ist. Es gibt Theorien: Immunsystem, Nervensystem, Blutgefässe, alles Mögliche. Dementsprechend gibt es ein Zuständigkeitsproblem. Sind es die Immunologen, die Neurologen, die den Dingen auf den Grund gehen sollten, wer soll da federführend sein?
Otmar Hilliges.
Nach genau fünf Minuten geht ein Wecker, Hilliges braucht jetzt wieder Ruhe.
Investitionen in die Forschung
Ohne Biomarker keine Akzeptanz, und ohne Akzeptanz keine Forschung. Es ist frustrierend.
Anlaufstellen für ME/CFS-Betroffene gibt es bisher nur an wenigen Spitälern. «In der Schweiz gibt es etwa zehn Ärztinnen und Ärzte, die sich im engeren Sinn mit ME/CFS auskennen, und ein paar mehr, die sich für die Anliegen der Betroffenen interessieren», sagt Chantal Britt, Mitgründerin und Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz. «Neben einer besseren Versorgung braucht es jetzt aber auch Investitionen in die biomedizinische Forschung, um die pathophysiologischen Zusammenhänge besser zu verstehen», sagt Britt.
Doch auf dem Forschungsplatz Schweiz ist die Krankheit inexistent. Im Datenportal des Schweizerischen Nationalfonds, das alle seit 1975 geförderten Projekte enthält, findet sich kein einziges zum Thema ME/CFS. Und nur eines, im Jahr 2011, das biologische Aspekte des Chronischen Fatigue-Syndroms erforschte.
Immerhin, im Frühjahr 2024 erschien für die deutschsprachigen Länder ein Konsensus-Statement zur Diagnostik und zu den Behandlungsansätzen von ME/CFS. Es fasst den aktuellen Stand des Wissens zusammen und soll Ärztinnen, Therapeuten und Gutachterinnen unterstützen im Umgang mit der Krankheit, die in den universitären Curricula noch immer nicht verankert ist. Ende August fand zudem der erste Round Table zur miserablen Versorgungslage von ME/CFS- und Long-Covid-Betroffenen in der Schweiz statt, an dem neben dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und dem medizinischen Berufsverband (FMH) alle relevanten Akteurinnen teilnahmen. Und kurz vor Weihnachten reichte Mitte-Nationalrat Lorenz Hess die Motion für eine «Nationale Strategie zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit ME/CFS und Long Covid» ein.
Es tut sich was. Nur verdammt langsam.
Zur Autorin und zu möglichen Anlaufstellen für Betroffene
Theres Lüthi ist freischaffende Wissenschafts- und Medizinjournalistin. Den grössten Teil ihres Arbeitslebens schrieb sie für die NZZ und die «NZZ am Sonntag». Sie ist in Zürich geboren, zweisprachig in New Jersey und Frankfurt aufgewachsen und hat in der Schweiz und in den USA studiert. Seit ihrem Doktorat in Neurowissenschaften ist Lüthi unter anderem auf die Thematik der Alzheimer- und Demenzforschung spezialisiert. Sie gehört ehrenamtlich zum Stiftungsrat von Demenz-Forschung Schweiz – Stiftung Synapsis.
Sie leiden unter Long Covid oder kennen Menschen, die davon betroffen sind? Hier finden Sie mögliche Anlauf- und Informationsstellen:
Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS. Ein gemeinnütziger Verein, der die Anliegen von Menschen mit der neuroimmunologischen Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis und von Menschen mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom sowie ihren Angehörigen vertritt.
Long Covid Schweiz. Der Verein setzt sich für diverse Anliegen ein, die Long Covid für Betroffene mit sich bringt.
ME/CFS Research Foundation. Die Vereinigung setzt sich für mehr biomedizinische Forschung ein, der Schwerpunkt liegt auf Diagnostik und Therapieforschung.
ME/CFS Verein Schweiz. Der Verein wurde 1993 im Kanton Zürich gegründet, es geht vor allem um Wissensvermittlung zur Krankheit, sowohl für Betroffene als auch deren Umfeld.