ME/CFS Verein Schweiz

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Tagi.ch: Er liegt 23 Stunden pro Tag – doch die IV hält ihn für arbeitsfähig 

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Tagesanzeiger.ch: Jacqueline Büchi, Markus Brotschi, Patrick Gutenberg

Wer sich mit schweren Coronafolgen bei der IV anmeldet, ist meist zu 100 Prozent krankgeschrieben. Und doch bekommen nur wenige eine Rente. Was das im Einzelfall bedeuten kann, zeigt die Geschichte von Marco Muraro. 

Seit einer Coronainfektion vor fünf Jahren ist Marco Muraro (50) bettlägerig. Trotzdem bekommt er keine IV. 
Foto: Patrick Gutenberg 

In Kürze: 

  • Marco Muraro ist seit einer viralen Infektion schwer krank und bettlägerig. 

  • Doch für IV-Gutachter sind seine Beschwerden nicht genügend objektivierbar. 

  • Es ist ein Problem, das sich bei Long-Covid-Fällen häufig stellt, wie eine Studie des Bundes zeigt. 

  • Patientenorganisationen sind konsterniert. 

Wenn Marco Muraro über seine Krankheit spricht, tut er das mit ruhiger, tiefer Stimme. «Es geht mir nicht toll», sagt er leise, und rasch wird klar, wie viel Untertreibung in dieser Aussage liegt. Seit der 50-Jährige vor fünf Jahren schwer krank wurde, ist in seinem Leben nichts mehr wie zuvor. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen, die Erwerbsarbeit hat er aufgegeben. 

Weil seine alte Wohnung nicht rollstuhlgängig war, ist er in ein kleines Studio gezogen. Nicht einmal zwei Meter liegen zwischen dem Bett und dem Sofa. Auf den beiden Liegeflächen verbringt Muraro, ein kräftiger Mann mit tätowierten Armen, nach eigenen Angaben rund 23 Stunden pro Tag. Die Storen sind zu, die einzige Lichtquelle befindet sich in der Küchenzeile im gleichen Raum. 

«ME / Chronisches Fatigue-Syndrom mit postexertioneller Malaise, Muskelzucken, Lichtempfindlichkeit, Ganzkörperbrennen, Belastungsintoleranz, Schwindel, Sehen von Doppelbildern, Nachtschweiss, Stürze ohne Traumafolgen oder Bewusstseinsverlust, Kopfschmerzen.» 

Das ist nur ein Punkt in einem fast dreissigseitigen Bericht, den das Universitätsspital Zürich Muraro vor einem Jahr ausgestellt hat. Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS: Das ist der Fachbegriff für eine schwere chronische Erkrankung, deren Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind. Oft steht eine Covid- oder eine Grippeinfektion am Anfang. 

Die sogenannte Bell-Skala misst, wie einschneidend die Folgen der Krankheit sind. Null bedeutet: komplett bettlägerig. Hundert heisst: keine Symptome. Muraro wurde von den Ärzten eine Zehn diagnostiziert: grösstenteils bettlägerig, komplett hausgebunden. 

Derzeit, sagt er, gehe es ihm noch deutlich schlechter. An manchen Tagen habe er nicht einmal mehr essen können. Aufrichten: unmöglich. Kauen: zu anstrengend. 

Von einem «schweren anhaltenden Crash mit extremer körperlicher Erschöpfung» schreibt seine Hausärztin in einem Brief, der dieser Redaktion vorliegt. Der Patient könne nicht mehr stehen und benötige «den Rollstuhl nun auch für den Gang auf die Toilette». 

IV-Begutachtung zumutbar? 

Adressiert ist das Schreiben von Mitte Januar an die Zürcher Stelle der Invalidenversicherung (IV). Denn für die Ärztin steht fest, was diese plötzliche Verschlechterung verursacht hat: eine Begutachtung der IV. Für die dreistündige Untersuchung musste Muraro im Rollstuhl von seinem Wohnort im Kanton Zürich nach Basel transportiert werden. Vorgesehen ist eine Reihe weiterer Abklärungen in Basel und Chur. Die Medizinerin warnt in ihrem Brief: 

«Bei weiteren Begutachtungen besteht die Gefahr eines irreversiblen Crashs mit hoher Pflegebedürftigkeit.» 

Die Antwort der Zürcher IV-Stelle erfolgt nur zwei Tage später: «Nach erneuter Prüfung durch unseren Ärztlichen Dienst halten wir an der Zumutbarkeit der Begutachtung fest.» Verhalte sich Muraro nicht kooperativ, könne dies zur Folge haben, dass sein Gesuch um IV-Leistungen abgewiesen werde. 

«Als ich den Brief der IV gelesen habe, fühlte ich mich wie der letzte Dreck», sagt Muraro. Kurz nach Erhalt des Briefs muss er notfallmässig mit Herzproblemen ins Spital. Für den Patienten und seinen Anwalt Sebastian Lorentz ist der Vorfall ein Beleg dafür, dass nur eine Begutachtung zu Hause zumutbar sei. Die zuständige IV-Stelle schreibt auf Anfrage, sie prüfe derzeit die «Relevanz der vorgebrachten Einwände». 

Und weiter: Man sei sich bewusst, dass eine Begutachtung für IV-Kundinnen und -Kunden «eine besondere Situation» sei. Eine polydisziplinäre Begutachtung – also eine Untersuchung in mehreren Fachdisziplinen – werde aber nur dann veranlasst, wenn die Informationslage unvollständig oder nicht eindeutig sei, weil verschiedene Symptome vorhanden sind. Das sei bei Marco Muraro der Fall. 

Tatsächlich ist die Krankheitsgeschichte des 50-Jährigen komplex, wie ein Einblick in umfangreiche Unterlagen zeigt – dazu später mehr. Allerdings hat diese Redaktion mit mehreren Betroffenen gesprochen, die in einer ähnlichen Situation sind. Auch eine Studie im Auftrag des Bundes deutet darauf hin, dass Marco Muraro nicht der Einzige mit ME/CFS ist, der bislang vergebens um eine IV-Rente kämpft. 

Zwölf Prozent erhalten eine Rente 

Im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen hat das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien untersucht, wie sich das Auftreten von Long Covid (siehe Box) auf die Schweizer Sozialversicherungen auswirkt. 

Die Studie zeigt, dass sich zwischen 2021 und 2023 schätzungsweise 2900 Personen mit Long Covid bei der IV angemeldet haben. Dies entspricht weniger als zwei Prozent aller Neuanmeldungen.

Was ist Long Covid? 

Wie es im Bericht heisst, leiden die meisten von ihnen an ME/CFS, oft in Kombination mit neurokognitiven Störungen und anderen Beschwerden. Viele weisen «besonders schwere Symptome» auf. Neun von zehn Personen sind zum Anmeldezeitpunkt zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Jede vierte betroffene Person verliert innerhalb von zwei Jahren nach der IV-Anmeldung den Job. 

«Die Prognose für Betroffene mit schweren, lang anhaltenden Beschwerden ist schlecht», schreiben die Autorinnen und Autoren. «Viele werden lebenslang mit grossen Einschränkungen in Alltagsaktivitäten und Arbeitsfähigkeit leben müssen.» 

Allerdings erhielten im Dezember 2023 nur 12 Prozent aller angemeldeten Long-Covid-Patienten und -Patientinnen eine Rente ausbezahlt. 

Zwar ist dieser Wert etwas höher als bei einer untersuchten Vergleichsgruppe mit Menschen ohne Long Covid. Auch dürfte der Anteil noch steigen, weil die Rentenüberprüfung in über der Hälfte der Fälle noch nicht abgeschlossen war. Die Patientenorganisation Long Covid Schweiz zeigt sich dennoch ernüchtert – der grosse Teil der Betroffenen bleibe aussen vor. 

Wer sich überfordert, fällt noch tiefer 

Marco Muraro hält über die sozialen Medien mit anderen Betroffenen Kontakt. Zu seinem Netzwerk gehört Christian Salzmann. Der Radiomoderator war selbst heftig an Long Covid erkrankt, inzwischen geht es ihm wieder besser. Eine IV-Rente benötigte Salzmann nie. Und doch macht ihn Muraros Geschichte betroffen. Er kenne persönlich mehrere Menschen, denen es ähnlich ergangen sei. 

Salzmann sagt: «Für Menschen mit ME/CFS ist es zentral, dass sie ihre Belastungsgrenze nicht überschreiten.» Aufwendige externe Begutachtungen seien Gift für sie. Es sei wie beim Leiterspiel: Je stärker das Ausmass der Krankheit, umso tiefer fällt man, wenn man sich erneut überfordert. «Manche liegen nur noch mit Ohrenschützern in einem abgedunkelten Raum.» 

Auch der Bericht des Bundes weist darauf hin, dass Schonung für solche Patientinnen und Patienten wichtig sei, um eine Verschlechterung ihres Zustands zu vermeiden. 

Das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen schreibt dazu auf Anfrage: «Die IV-Stellen sind verpflichtet, die Auswirkungen der verschiedenen Krankheitsbilder auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit abzuklären.» Es würden aber stets diejenigen Abklärungsinstrumente eingesetzt, «die individuell und nach gesundheitlicher Situation notwendig und zumutbar sind». 

Sofern dies im konkreten Einzelfall sinnvoll und notwendig erscheine, könne auch eine Abklärung durch einen Arzt der Regionalen Ärztlichen Dienste der IV-Stellen bei der versicherten Person zu Hause erfolgen. 

Mit der Thematik beschäftigt man sich auch bei Procap, der Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderungen. Procap-Rechtsanwalt Dominik Sennhauser betont, die IV sei nicht zur Begutachtung verpflichtet. Er kenne jedoch kaum Fälle, in denen die Untersuchung zu Hause stattgefunden habe, und nur vereinzelte, bei denen man sich auf die Berichte der behandelnden Ärzte und des Regionalen Ärztlichen Diensts gestützt habe. 

Die relativ tiefe Anerkennungsquote bei Long Covid führt Sennhauser darauf zurück, dass die Beschwerden häufig nicht objektivierbar seien. Vergleichsweise schlecht seien die Chancen von Menschen, die bereits vor der Covid-Erkrankung ein psychisches oder ein anderes Leiden hatten. In solchen Fällen gehe die IV oft davon aus, dass ein Zusammenhang mit der Vorerkrankung bestehe. 

Ein früheres Burn-out holt ihn ein 

Dieses Argument spielt auch im Fall von Marco Muraro eine Rolle. Vor rund 17 Jahren hatte er ein Burn-out erlitten. Schon damals war der gelernte Elektroniker, der in einer IT-Firma eine steile Karriere gemacht hatte, eine Weile arbeitsunfähig. Danach orientierte er sich beruflich neu. Er eröffnete ein Tattoostudio und eine Praxis für Mentalcoaching. 

Bilder aus der Zeit zeigen einen aktiven Mann, der viel unterwegs ist. Inzwischen hat er beide Firmen aufgegeben. 

Ohnehin ist Muraros Fall ungewöhnlich. Laut Arztbericht war es ein «grippaler Infekt der oberen Atemwege» an Weihnachten 2019, der am Anfang der aktuellen Beschwerden stand. Damals war noch kein Covidfall in der Schweiz bestätigt und Tests für das Virus noch nicht erhältlich. Muraro musste ins Spital. «Jedes Blutgefäss in meinem Körper brannte höllisch», erinnert er sich. Wochenlang sei er in einer Art Delirium gewesen. 

Im Sommer 2022 erkrankte Muraro erneut mit den gleichen Symptomen, diesmal wurde er positiv auf Corona getestet. In dieser Zeit verschlechterte sich sein Zustand weiter, wie den medizinischen Berichten zu entnehmen ist. 

Weitere gesundheitliche Probleme kamen hinzu, Muraro erlitt einen Herzinfarkt und musste mehrfach an der Speiseröhre operiert werden. Es gibt Hinweise darauf, dass solche Beschwerden Folgen einer Long-Covid-Erkrankung sein können. Dies im Einzelfall zu beweisen, ist jedoch schwierig. 

In einem ersten umfangreichen Gutachten kam die IV im Februar 2023 zum Schluss, seine Beschwerden könnten «nur teilweise objektiviert werden». Die behandelnden Ärztinnen seien zu wenig auf seine Vorgeschichte eingegangen. Während diese Muraro eine komplette Arbeitsunfähigkeit attestieren, sind die Gutachter davon nicht überzeugt. Das Verfahren zieht sich bis heute hin. 

Spezifische Tests für Long Covid fehlen 

Der Fall mag in mancher Hinsicht aussergewöhnlich sein. Das Problem der mangelnden Messbarkeit stellt sich jedoch häufig, wie dem Bericht des Bundes zu entnehmen ist. Darin heisst es, die Symptome von Fatigue und Belastungsintoleranz seien «schwer objektivierbar und deshalb nicht einfach in der Abklärung». Bis jetzt fehlten «generelle diagnostische Marker für Long Covid», auch wenn die Forschung dazu Befunde liefere, «welche dereinst Grundlage für diagnostische Tests liefern könnten». 

Chantal Britt ist die Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz. Sie sagt: «Es ist eine vertrackte Situation: Man fordert medizinische Beweise, die es so nicht gibt. Die Folge ist, dass Tausende Menschen durch die Maschen fallen.» 

Viele Long-Covid-Betroffene meldeten sich gar nicht mehr bei der IV an, weil sie die Erfahrungsberichte anderer Erkrankter abschreckten. «Sie befürchten, dass sie durch die intensiven Begutachtungen körperlich weiter Schaden nehmen – und am Ende doch ohne Rente dastehen.» 

Beim Bundesamt für Sozialversicherungen will man diesen Vorwurf nicht gelten lassen. Die bestehenden Verfahren seien geeignet, um sich bei Long-Covid-Betroffenen ein «umfassendes, objektives Bild über die funktionelle Leistungseinschränkung zu verschaffen». Die IV halte sich zudem an die Empfehlungen der Swiss Insurance Medicine für die Abklärung von Post-Covid-Erkrankungen. 

Dass bisher erst vergleichsweise wenig Betroffene eine Rente erhalten, erklärt eine Sprecherin mit dem Prinzip «Eingliederung vor Rente»: Die IV prüfe immer zuerst das Eingliederungspotenzial einer betroffenen Person. «Erst wenn das Potenzial ausgeschöpft ist oder keine Verbesserungen im Gesundheitszustand eintreten, kommt es zu einer Rentenleistung.» 

Marco Muraro lebt heute von der Sozialhilfe. Im Haushalt hilft ihm die Spitex, dazwischen pflegt ihn seine 82-jährige Mutter. «Eigentlich müsste es doch umgekehrt sein», sagt er nachdenklich. Zu seinem volljährigen Sohn habe er ein gutes Verhältnis, doch ein junger Mann habe Besseres zu tun, als sich um den kranken Vater zu kümmern. 

Vor vielen Jahren hatte er ihm versprochen, dass sie nach seinem 21. Geburtstag gemeinsam durch die USA reisen würden. Diese Hoffnung habe er inzwischen aufgegeben, sagt Muraro. Stattdessen beschäftige er sich nun mit dem Thema Sterbehilfe.