Blog mit Erfahrungsberichten und Tipps einer Betroffenen
Anna Hirsiger ist seit 20 Jahren von CFS/ME betroffen. Sie wurde mit 19 Jahren nach einem akuten viralen Infekt chronisch krank. Sie schreibt ehrliche Blogs über die Krankheit und ihren Umgang damit. Ihr Ziel ist, etwas zur Aufklärung beizutragen und anderen Betroffenen Mut zu machen.
Bericht als CFS Betroffene: Chronisch krank, selber schuld?
Teil 1
Heute möchte ich als CFS Betroffene (Chronisches Müdigkeitssyndrom / Chronisches Erschöpfungssyndrom - was das überhaupt ist? Dazu findest du hier mehr Informationen) wieder mal über etwas sehr persönliches berichten.
Vielleicht warst oder bist du selber chronisch krank? Du hast vielleicht schon vieles ausprobiert, und einfach keine Lösung gefunden. Fragst du dich manchmal auch, ob deine Krankheit deine Schuld ist? Ob du schuld bist, dass du keine Lösung findest?
Als CFS Betroffene habe ich mich oft gefragt, ob ich Schuld an meiner Krankheit habe
Ja, das sind harte Worte. Ich kann nur von mir erzählen. Ich habe mich das viele Jahre lang gefragt.
Als ich mit 20 Jahren schwer krank wurde und im Alltag nicht mehr funktionieren konnte, dachte ich zuerst, dass ich sicher bald wieder gesund werden würde. Ich war im Krankhaus und bei vielen Ärzten, und war zu Beginn überzeugt, dass ich dort Hilfe kriegen würde.
Immer mehr zu merken, dass mir die Medizin nicht wirklich helfen konnte (so in etwa: "die Ursache von dieser Erkrankung ist noch nicht bekannt, am besten lernen sie damit zu leben und gehen zu einem Psychiater"), hat mich hart getroffen. Es konnte doch nicht sein, dass es keine Lösung gab.
Als CFS Betroffene begab mich auf die Suche. Jahrelang. Ich habe alle möglichen Therapien ausprobiert (auf allen möglichen Ebenen, die es so gibt, sei es schulmedizinischer, alternativer oder spiritueller Art). Ich habe jahrelang auch psychisch an mir gearbeitet, alles angeschaut.
Ich habe immer alle Empfehlungen so gut es ging umgesetzt. Ich blieb dran mit den einzelnen Therapien, oft bis mir die Therapeuten dann irgendwann sagten, "ich glaube diese Methode ist nichts für dich/Sie, wir kommen nicht (mehr) weiter". Nichts half.
CFS Betroffene: Es muss doch eine Lösung geben
Die Jahre vergingen. Es war zum verzweifeln.
Ich hatte diesen inneren Drang. Diese innere Stimme, dir mir sagte, "du musst dich einfach noch mehr anstrengen, du musst einfach weitersuchen, irgendwann findest du eine Lösung für deine Krankheit. Es muss doch einfach eine Lösung geben". Dabei schwang auch immer diese leise Stimme mit, die mir sagte, "du bist selber schuld, wenn du bisher keine Lösung gefunden hast".
Also machte ich weiter. Ich las hunderte von Büchern zu medizinischen und spirituellen Themen, ging zu verschiedenen Heilern, machte Therapien, machte Ausbildungen und besuchte Seminare und Weiterbildungen.
Viele Bücher und Ratgeber gaben mir zudem das Gefühl, mit dem richtigen Mindset könnte man alles erreichen. Das heisst ja aber dann im Umkehrschluss auch, wenn du es nicht hinkriegst, stimmt dein Mindset nicht. Stimmte also mein Mindset nicht? Hatte ich eine falsche Einstellung? Eine Einstellung, die mich am Gesundwerden hinderte? Was machte ich falsch?
Auf meinem Weg als CFS Betroffene (Chronisches Erschöpfungssyndrom; Chronisches Müdigkeitssyndrom) hatte ich immer wieder mit Schuldgefühlen zu kämpfen. War ich selber schuld, nicht aus dieser Krankheit raus zu kommen? Wieso bloss konnte mir niemand helfen?
CFS Betroffene: Das Gefühl, alles mögliche probieren zu wollen
Häufig hörte ich von Therapeuten, Ärzten, Familie und Freunden von Herzen lieb gemeinte Ratschläge (und ich danke allen von ganzem Herzen dafür, ich weiss wie schwer und ohnmächtig es ist, wenn man von aussen zuschauen muss, wenn es einem nahen Menschen nicht gut geht. Ich hätte es ganz genau gleich gemacht):
"Geh doch mal noch zu dem, der hat mir sehr geholfen. Oder probiere doch mal diese Therapie aus. Oder dann musst du halt mal Stationär ins Krankenhaus gehen. Oder vielleicht musst du mal auf eine einsame Insel und dich dort erholen. Du brauchst einfach mehr Struktur. Oder du brauchst mal gar keine Struktur, etc.".
Und ich hatte dieses ständige Gefühl, wenn ich es nicht probiere, dann habe ich nicht alles mögliche probiert. Und wenn ich nicht alles mögliche probiert habe, dann bin ich selber schuld, wenn ich nicht aus dieser Krankheit rauskomme.
Also ja, ich machte weiter. Ich ging zu dem und jener, probierte diese und jene Therapie. Ich ging drei Monate stationär in eine anthroposophische Klinik. Ich ging sogar sechs Monate auf eine einsame Insel (ja, das habe ich wirklich gemacht!). Du siehst, ich wollte einfach nichts unversucht lassen.
All die grossartigen und inspirierenden Menschen, die ich auf meinem Weg als CFS Betroffene kennenlernen durfte, all die wunderbare Unterstützung, die ich erhalten durfte, ein grosses Geschenk. Ich lernte viel, über mich, für mich.
CFS Betroffene: Survival of the fittest?
Es gab natürlich auch Momente, die mich sehr trafen oder mich deprimierten. Wenn mich vor Gesundheit strotzende Therapeuten zum Beispiel fragten, "Was willst du denn nicht sehen, Anna?" (Da ich zudem eine Augenkrankheit habe, wo ich auf einem Auge nur noch 10% sehe, aber dazu ein andermal mehr). Es machte mich wütend und ohnmächtig. So einfach soll es sein, und ich will es einfach nicht sehen?
Wie konnte mir jemand sagen, der mich kaum kannte, dass ich nicht hinschauen will? Dass ich etwas nicht sehen will? Obwohl ich doch seit vielen Jahren auf jeden einzelnen Punkt meiner Geschichte sah und alles akribisch auseinandernahm, um den sogenannten vermuteten vergrabenen Hund zu finden. Wenn ich so etwas hörte, fühlte ich mich sofort wieder schuldig. Schaute ich einfach nicht gut genug hin, ging ich nicht tief genug?
Ich hörte auf meinem Weg als CFS Betroffene verschiedenes:
Bezahlte ich in diesem Leben vielleicht für schlechtes Karma? (Jep, dann wollte ich auch wirklich nicht wissen, was ich in den vorherigen Leben angestellt hatte. Wahnsinnig toll war es keinesfalls, zwinker)
Oder profitierte ich etwa von meiner Krankheit, genoss ich die Aufmerksamkeit, die damit einherging? Wollte ich eigentlich gar nicht gesund werden?
Oder war es einfach die Evolution, ganz im Sinne von Darwin "Survival of the fittest", wozu ich wohl definitiv nicht gehörte. (Ich muss schmunzeln, jetzt wo ich das schreibe. Nein, zu "the fittest" kann ich mich nun wirklich nicht zählen, zwinker.)
Oder war es doch genetisch oder autoimmun?
Alles Dinge und Ideen, die mir gesagt wurden, oder die ich las und über die ich dann auch nachdachte.
Wo liegt bloss der Hund begraben? Als CFS Betroffene suchte ich jahrelang nach dieser Antwort.
Es ging weiter und weiter
Ich habe meine sehr wenige Energie, die ich hatte, jahrelang dazu gebraucht um 1-2 x pro Woche in eine Therapie zu gehen, um Sachen "aufzuarbeiten", um Übungen zu machen. Ich schleppte mich oft mit letzter Kraft zu einem Therapietermin, um dann den ganzen Rest des Tages erschöpft im Bett zu liegen. So oft, immer wieder. Ich wollte ja wenigstens das versuchen.
Denn ich fühlte mich schuldig. Schuldig krank zu sein. Ich fühlte mich schuldig, dass meine "besten" Jahre an mir vorbeizogen, während meine Freundinnen ihr Studium absolvierten, Partys feierten, auf Reisen gingen, Kinder kriegten, etc.
Verstehe mich nicht falsch. Ich freute mich für meine Freundinnen und war so dankbar, dass sie gesund waren. Sie spiegelten mir auch immer wieder, wie gesund sein ging. Wie es sich anfühlen muss, wenn man Energie hat. Und das war einfach wundervoll. Denn mit der Zeit, nach vielen Jahren als CFS Betroffene, begann ich zu vergessen, wie es sich anfühlte, gesund zu sein und für einen normalen Alltag Energie zu haben.
Aber ich fühlte mich schuldig mir gegenüber, mein Leben nicht so leben zu können, wie ich mir das wünschen würde.
Ich fühlte mich aber auch schuldig meinen Eltern, meinem Bruder, meinen Verwandten, meinen Freunden und auch meinem späteren Ehemann gegenüber, und sogar der Gesellschaft gegenüber. Ihnen Sorgen und Ängste zu bereiten. Sie zu beunruhigen. Ihnen Aufwand zu bereiten. Ihnen Umstände zu machen. Finanziell eine Last zu sein.
Ich wollte das alles nicht. Ich war gewohnt selbständig und unabhängig zu sein.
Ich wollte alles tun, um gesund zu werden.
CFS Betroffene: Ich konnte nicht mehr
Irgendeinmal, vielleicht 15 Jahre später (du siehst, ich hab doch einen ziemlich langen Atem, zwinker), hatte ich genug davon. Ich konnte nicht mehr.
Ich wollte keine einzige Therapie mehr sehen. Ich wollte alle die weisen und spirituellen Bücher nicht mehr sehen. Ich habe alle Therapien abgeschlossen. Die meisten Bücher habe ich verschenkt oder in den Keller geräumt. Ich hatte so genug von all dem.
Natürlich fiel mir das nicht nur leicht, denn mit den Therapien war auch immer eine Hoffnung verbunden. Eine Hoffnung auf Besserung, auf Heilung. Es war mir als CFS Betroffene auch eine Stütze, hat mir oftmals aus unglaublichen Tiefs rausgeholfen. Und wie war es denn nun, ohne Therapien zu sein? Würde ich ins bodenlose fallen?
Es passierte gar nichts. Die Hoffnung blieb, auch ohne Therapien. Denn ich war nun stark genug. Ich hatte viele Tools gelernt, die ich nun anwenden konnte.
Und ich war dankbar, meine wenige Energie nach all den Jahren auch mal für anderes brauchen zu können, den Fokus auf anderes zu legen.
All die Therapien waren unglaublich lernreich und spannend, es war extrem hilfreich für meine persönliche Entwicklung, aber natürlich auch für meine Arbeit in meiner Praxis.
Ich war und bin dankbar für jede einzelne Erfahrung. Es war mein ganz persönlicher Weg. Ich wäre heute nicht da, wo ich bin. Und ich bin froh da zu sein, wo ich bin. Ich weiss nicht, ob ich überhaupt noch da wäre ohne diesen Weg, ohne diese Unterstützung, die ich von allen Seiten erhielt.
Aber jetzt war die Zeit der Therapien für mich einfach vorbei, das spürte ich gut...
Wie es weiterging und wieso ich heute aus tiefstem Herzen weiss, dass ich nicht schuld bin an meiner Krankheit, liest du hier im Teil 2.